Seit September 2009 (!) verteidigen die Partner Prof. Dr. Gubitz und Dr. Molkentin einen der Angeklagten im sogenannten SMS-Chat-Prozess (z.B. SPIEGEL ONLINE vom 14.9.09) vor dem Landgericht Kiel.

Den verbliebenen drei (ursprünglich sechs) Angeklagten wird gewerbsmäßiger Bandenbetrug vorgeworfen. Sie sollen für verschiedene Firmen verantwortlich sein, die SMS-Chat-Dienste angeboten haben. Der Betrug soll darin liegen, dass angeblich Geschädigte jeweils 1,99 € für SMS ausgegeben haben, in der Hoffnung, einen Partner zu finden. Diese Chance soll aber nach der Anklage in Wirklichkeit gar nicht bestanden haben. Vielmehr sollen die Antworten von Personen geschrieben worden sein, die nicht an Beziehungen, sondern nur an Umsatz interessiert waren,  sog. Chat-Animateuren. Drei Beschuldigte befinden sich zu Beginn des Prozesses seit über 9 Monaten in Untersuchungshaft, bis zur Entlassung aus der Haft durch das Beschwerdegericht, also gegen den Willen der zuständigen Kammer des Landgerichts, vergehen über weitere 9 Monate. Die Staatsanwaltschaft Kiel beziffert den Gesamtschaden auf 46.217.332,- Euro bei einer Zahl von 700.718 Geschädigten. Die Verteidigung bestreitet die Richtigkeit der Annahmen der Staatsanwaltschaft und hegt starke Zweifel an der grundsätzlichen Strafbarkeit derartiger Angebote.

Eine eingehende journalistische Prozessberichterstattung zu den einzelnen Verhandlungstagen der ersten Jahre ist bei Kiel211 zu finden.

Auf dieser Seite weiter unten finden Sie eine fortlaufende Dokumentation wesentlicher Anträge und Erklärungen, sowie die dazu ergangenen Beschlüsse, teilweise kommentiert.

Stand Anfang 2016: 6 Jahre, 4 Monate Verfahren, über 380 Verhandlungstage.

Das Verfahren steckt in den Mühen der Ebene, man könnte auch sagen, es schleppt sich hin. Von drei angesetzten Terminen pro Woche finden manchmal zwei, manchmal einer und auch nicht selten keiner statt. Seit über einem Jahr wird nun eine angeblich Geschädigte vernommen. Ihre Angaben sind aufschlussreich und modellhaft für den Gegenstand der Anklage. Sie mag einen echten Partner gesucht haben, es drängt sich aber der Eindruck auf, dass ein bezahlter Animateur, der ihre SMS beantwortete, ihr immer noch lieber war als überhaupt kein Kontakt.

Früher: Am 3.12.2013, dem 300. Hauptverhandlungstag (zum Hintergrund und weiteren Informationen s.u.), wurde eine ehemalige Mitarbeiterin der Firmen Mintnet und TMP gehört. Sie berichtete u.a. davon, dass es Vorgaben für die Chatter gab, so beispielsweise das Alter der Kunden zu prüfen, um Sex-Dialoge mit Minderjährigen auszuschließen. Außerdem hätten die Chatter auf die Frage, ob sie „Animateure“ seien, wahrheitsgemäß mit „ja“ antworten sollen. Alles nicht uninteressant, aber ohne direkte Relevanz für den Tatvorwurf. Die bislang untersuchten Chatdialoge waren allesamt solche, die von Franchisenehmern geführt wurden. Die Zeugin berichtet aber von den Verhältnissen im Firmenkomplex Mintnet. Ob das Gericht bei seiner Befragung die Grenzen bewusst oder unbewusst verwischt, bleibt offen.

Der Verhandlungstag endete mit einer Anregung der Verteidigung, einmal wieder das Vorgehen der Staatsanwaltschaft in dieser Sache in den Blick zu nehmen: Immerhin wurde gegen diese Zeugin wegen ihrer angeblichen Beteiligung am Betrug zunächst ein Strafbefehl beantragt, der die vom Gesetz nicht vorgesehene Rechtsfolge einer vorbehaltenen Freiheitsstrafe von einem Jahr auf Bewährung zum Inhalt haben sollte. § 59 StGB erlaubt aber nur, die Verhängung zu Geldstrafen (und auch nur bis zu 180 Tagessätzen) vorzubehalten, nicht jedoch zu Freiheitsstrafen. Zur Rechtsunkenntnis trat dann offensichtlich bei der Staatsanwaltschaft das Desinteresse: Auch der nächste Strafbefehlsantrag scheiterte, denn die eigentlich mögliche Verhängung einer vorbehaltenen Geldstrafe von 160 Tagessätzen sollte wegen des Vorwurfs der Beihilfe zu einem gemeinschaftlich begangenen gewerbsmäßigen Bandenbetrug  erfolgen. Der zuständige Richter wies die Staatsanwältin darauf hin, dass der Antrag wiederum unzulässig sei, da ein Strafbefehl nicht wegen eines Verbrechens verhängt werden könne, § 407 Abs. 1 StPO. Auch egal, den notwendigen Abstand zwischen Verbrechen und Vergehen stellt bei entsprechender Interessenlage ein bisschen Tipp-Ex schnell her: Auf der ersten Seite des Strafbefehls wurde das Wort „Bande“ weggeext, bei den angewendeten Vorschriften der entsprechende Absatz des § 263 StGB, ansonsten blieb der Inhalt des Strafbefehls völlig identisch (kein Scherz!). Weitere Ermittlungen hat es nicht gegeben. Die völlig andere Einschätzung fußt auf exakt demselben Akteninhalt. Als sei die rechtliche Bewertung, ob jemand als Mitglied einer Bande gehandelt hat oder nicht, völlig beliebig.

Bemerkenswert ist dann noch, dass im Strafbefehl ein „Gesamtvermögensschaden“ in Höhe von 46.217.332,00 € angenommen und die Rechtsfolge „Geldstrafe auf Bewährung“ verhängt wird .

In den ersten drei Jahren wurde oft dreimal, manchmal zweimal die Woche verhandelt. Mittlerweile ist die Frequenz deutlich geringer. Die Befragungen vieler „Geschädigter” machen überdeutlich, dass die Beweggründe für ihr Chatten vielfältig waren. Oft ergibt sich, dass Einsamkeit, Frustration, Langeweile und Neugier hinter dieser Form der Kommunikation steckte. Damit ist die Grundannahme der Anklage, tragendes Motiv sei stets gewesen, einen Partner kennen zu lernen, widerlegt. Die Vernehmungen ergeben dann auch, dass der Kontakt durchaus wertvoll für die Kunden war. Die Aussagen mittlerweile ebenfalls vernommener Franchisenehmer fördern weitere durchgreifende Zweifel an der Anklage zutage: Diese haben zu ganz verschiedenen Anbietern Vertragsbeziehungen unterhalten und völlig eigenständig Chat-Dienstleistungen ausgeführt. Auch die weitere Annahme der Anklage, es handele sich bei den Angeklagten um Drahtzieher, die die Franchisenehmer als ihre willfährigen „Werkzeuge“ eingesetzt haben, ist damit nicht mehr zu halten. Die Kammer gibt zu erkennen, dass sie dennoch in den Angeklagten Täter und in den Kunden durchweg Geschädigte sieht. Die entlastende Beweisaufnahme gerade auch der letzten Tage hat keine sichtbaren Auswirkungen auf die Überzeugung des Gerichts. Spontanäußerungen sämtlicher Berufsrichter zu entsprechenden Erklärungen der Verteidiger (im Rahmen von § 257 StPO) deuten eher auf eine Verfestigung der Fronten hin. So kann der Prozess noch Jahre dauern.

Die Chronologie:

Entscheidung der Generalstaatsanwaltschaft Bremen vom 10.11.2004 in einem parallel gelagerten Fall, in der das Anbieten moderierter Chats für straflos gehalten wird.

Antrag, noch vor Beginn des Prozesses, dem seit über sieben Monate in Haft befindlichen Mandanten zu gestatten, die über 20.000 Seiten umfassende Akte nicht in Papier- sondern in digitaler Form durcharbeiten zu können – 10.7.09.

Antrag nach Anklageerhebung, den Haftbefehl aufzuheben – 5.8.09.

Gemeinsame Presserklärung der Kieler Rechtsanwälte Gerald Goecke und Dr. Michael Gubitz – Reaktion auf die Presserklärung der Staatsanwaltschaft Kiel – 11.8.09.

Antrag auf Einstellung des Verfahrens gegen den Mandanten durch Urteil – 17.9.09

Antrag, auch dem Angeklagten selbst die Gelegenheit zu geben, die Chatprotokolle (91.000.000 Datensätze) einzusehen, bevor er sich zur Sache äußert – 21.9.09.

Antrag an das Gericht, auf die Ablösung einer der beiden Sitzungsvertreterinnen der Staatsanwaltschaft hinzuwirken – 24.9.09.

24.9.09: Zurückweisung des Einstellungsantrags vom 17.9.09.

Gemeinsame Presserklärung der Kieler Rechtsanwälte Gerald Goecke, Dr. Michael Gubitz, Dr. Wolf-Rüdiger Molkentin und Uwe Bartscher zum sog. SMS-Chat Verfahren – 24.9.09.

Antrag auf Aussetzung der Verfahrens gegen den Mandanten – 08.10.09.

Aussetzungsantrag, weil wesentliche Aktenbestandteile im Umfang von mehreren tausend Seiten bislang der Verteidigung nur unter Aufsicht bekannt gemacht werden und daher beantragt wird, diese erst zu fotokopieren und der Verteidigung danach Akteneinsicht zu gewähren – 8.10.09.

Gegenvorstellung vom 8.10.09 gegen die Zurückweisung des Antrags auf Einstellung des Verfahrens durch Urteil

Ablehnung der Berufsrichter wegen der Besorgnis der Befangenheit – 13.10.09.

Stellungnahme der Verteidigung zur dienstlichen Äußerung der abgelehnten Richter, 15.10.09.

Entscheidung über den Befangenheitsantrag vom 13.10.09 – 16.10.09.

Gemeinsame Presseerklärung der Kieler Rechtsanwälte Gerald Goecke, Dr. Michael Gubitz, Dr. Wolf-Rüdiger Molkentin, und Uwe Bartscher zum so genannten SMS-Chat-Verfahren – 14.12.2009.

Ablehnung des Sachverständigen M wegen der Besorgnis der Befangenheit – 15.12.09.

Beschwerde gegen den Beschluss des Landgerichts, mit dem die weiter Haftfortdauer auch nach über einem Jahr Untersuchungshaft angeordnet wurde – 6.1.10.

Das erste Urteil des Amtsgerichts Flensburg (vom 22.01.2010) in dieser Sache, mit welchem eine Mitarbeiterin wegen Beihilfe nach bereits einem kurzen Prozesstag zu einer Freiheitsstrafe verurteilt wurde. Die Entscheidung beruht auf einem „Geständnis“ nach einer Absprache. Das damit ein Betrug zum Nachteil Abertausender Geschädigter und die Beihilfe zu einer Haupttat, deren Aufklärung bereits Monate in Anspruch nimmt, in wenigen Minuten geständnisfähig sein soll, wirft die Frage auf, ob es sich tatsächlich um ein rechtsstaatliches Verfahren gehandelt hat. Die verurteilte Mitarbeiterin wurde kurz danach vor dem Landgericht Kiel als Zeugin gehört. Sie hat wesentliche Teile ihres angeblichen Geständnisses nicht bestätigt.

Kurzes Schreiben an das Schleswig-Holsteinische Oberlandesgericht im Rahmen der seinerzeitigen Haftbeschwerde (8.2.2010) mit dem nachgewiesen wurde, dass die Konstruktion des Anklagevorwurfes als „uneigentliches Organisationsdelikt“ verfehlt ist.

Beschwerde vom 10.2.2010, um auch dem Angeklagten A. eine Einsicht in das Material zu ermöglichen, das vom Gericht nicht als „Akte“, sondern als „Asservate“ geführt wird.

Erklärung des Kammervorsitzenden vom 8.2.2010, in der nach Aufforderung durch das Oberlandesgericht im Rahmen der laufenden Haftbeschwerde plötzlich eine neue, angeblich bereits ohnehin geplante Terminierung angekündigt wird.

Stellungnahme der Verteidigung vom 12.2.2010 zur Erklärung des Kammervorsitzenden vom 8.2.2010.

Zwei weitere Urteile des Amtsgerichts Flensburg (vom 12.3.2010 und vom 19.4.2010) gegen zwei Franchisenehmer. Die Urteile gleichen einander auch dort aufs Wort, wo die konkreten Umstände voneinander abweichen. Wiederum ist verblüffend, wie leicht offenbar die Aufklärung am Amtsgericht fällt, obwohl das Landgericht bereits monatelang Beweise erhebt. Beide Franchisenehmer wurden auch vom Landgericht Kiel vernommen. Auch sie haben wesentliche Teile Ihres „Geständnisses“ nicht bestätigt.

Einstellung des gegen den Mitangeklagten H. geführten Verfahrens am 6.5.2010.

Beschluss der Kammer (18.5.2010) zur Vernehmung einer Zeugin, die entstanden ist, nachdem die Zeugin stundenlang grundlos von der Polizei festgehalten wurde.

Haftbeschwerde der Verteidigung vom 15.6.2010, nach der auf Anordnung des Oberlandesgerichts am 2.7.2010 nach einem Jahr und sieben Monaten gegen den Willen der Staatsanwaltschaft und des Landgerichts endlich aus der Untersuchungshaft entlassen worden ist.

Weitere (hoffentlich auch ohne die in Bezug genommene unsachliche Polemik der Sitzungsvertreterinnen der Staatsanwaltschaft verständliche) Stellungnahme der Verteidigung vom 30.06.2010im Rahmen der laufenden Haftbeschwerde.

Am 19.1.2011 hat der Vorsitzende Richter am Landgericht Döhring an den Leitenden Oberstaatsanwalt Schwab geschrieben und um Ablösung der Staatsanwältin Dr. Sch. vom Sitzungsdienst gebeten. In diesem Schreiben finden sich unter anderem folgende Gründe für seine Bitte: Hintergrund sei die schwierige Verhandlungsatmosphäre, die immer wieder durch eine feindselige Stimmung zwischen der Sitzungsvertreterin und einigen Verteidigern geprägt werde. Das Verhalten der Staatsanwältin sei aus Sicht der Kammer zwar nicht unzulässig. Es erschiene aber „als unverständlich und unangemessen“. Eine Presseerklärung der Verteidigung vom 24.1.2011 zu diesem höchst seltenen Vorgang in einer Hauptverhandlung findet sich hier.

Der Prozess zieht sich hin. Das Gericht hat die vollständigen Chatprotokolle im sogenannten Selbstleseverfahren eingeführt. Das bedeutet, dass alle Beteiligten mittlerweile zehntausende SMS gelesen haben (sollten). Das Gericht hat jeder und jedem sogenannten Geschädigten die Bestellung eines Zeugenbeistands angeboten; fast alle haben davon Gebrauch gemacht und erscheinen nun in Begleitung von Rechtsanwälten zur Vernehmung. Während das Gericht sich zunächst nur dafür interessiert hat, vom jeweiligen Zeugen einige Fakten abzufragen, die einen Zusammenhang zum Chatprotokoll sicherstellen, befragt die Verteidigung die Zeugen auch dazu, was sie sich bei den teils monatelangen Kontakten per SMS eigentlich vorgestellt haben. Das Gericht sieht den sich hiermit ergebenden Aufwand nicht zu Unrecht als kaum noch handhabbar an und versucht, das Fragerecht der Verteidigung zu beschneiden. So hat es hinsichtlich der Befragung einer Zeugin, die sehr umfangreich und teilweise parallel mit zwei Personen angeblich gleicher Identität SMS ausgetauscht hat, eine Darlegung des Beweisziels gefordert. Diese Darlegung hat die Verteidigung mit dem vorliegenden Dokument geliefert. Daraufhin hat das Gericht mitgeteilt, eine Einschränkung des Fragerechtes derzeit nicht mehr zu beabsichtigen.

Nachdem die Kammer auf die ausführliche Stellungnahme des Kollegen Dr. Molkentin mitteilt, das Fragerecht „zur Zeit nicht“ beschränken zu wollen, wird wegen der weiteren Ausführungen der Kammer noch diese Klarstellung von Dr. Molkentin verlesen.

20.4.2011: Aufhebung der Haftbefehle auf Antrag der Verteidigung und die Presseerklärung der Verteidigung hierzu.