Der Kieler SMS-Prozess ist im September 2015 in sein siebtes (!) Jahr gegangen (zur Geschichte siehe weiter unten). Ein Ende ist nach wie vor nicht abzusehen. Zwischen dem 7. Januar und dem 30. Mai 2016 (fast fünf Monate lang!) wurde überhaupt nicht zur Sache verhandelt, weil verschiedene Beteiligte (ein Schöffe, zwei Angeklagte) erkrankt waren. Nach § 229 StPO darf eine Hauptverhandlung jedoch nur längstens drei Wochen bzw. einen Monat unterbrochen werden, im Falle einer Erkrankung auch bis zu längstens weiteren 6 Wochen. Es sind also jegliche Fristen für eine mögliche Unterbrechung der Hauptverhandlung bei weitem abgelaufen. Eine Aussetzung des Verfahrens wäre zwingend. Da die Kammer jedoch einfach weiter macht, liegt ein Rechtsfehler vor, der allerdings erst mit der Revision nach dem Urteil gerügt werden kann. Die Kammer mutet damit den Angeklagten zu, sich jetzt weiter (jahrelang?) einer vielleicht sinnlosen Verhandlung stellen zu müssen.

Doch damit nicht genug. Nachdem einer der Angeklagten fortlaufend ab dem 5. März erkrankt war, wurde dessen Verfahren abgetrennt. Dies bedeutet, dass entweder das bisherige Verfahren, soweit es sich gegen ihn richtet, als gescheitert angesehen wird, oder aber dass man darauf setzt, nach Wochen oder Monaten weiterer Beweisaufnahme in dem gegen die anderen beiden Angeklagten nun fortgeführten Verfahren beide Verfahren wieder zu verbinden. Eine Wiederverbindung würde – soweit sie von Rechts wegen überhaupt möglich ist – bedeuten, dass sämtliche Beweisaufnahmen aus der Zeit der getrennten Verfahrensführung wiederholt werden müssten. Dies würde dann die beiden anderen Angeklagten wie die jeweils gehörten Zeugen noch einmal doppelt belasten.

Anlässlich der Abtrennungsentscheidung hat der Partner Dr. Molkentin für den von ihm gemeinsam mit dem Partner Prof. Dr. Gubitz verteidigten Angeklagten ein Ablehnungsgesuch angebracht. Darin hat er u.a. Folgendes ausgeführt:

Der abgelehnte Vorsitzende hat in der heutigen Hauptverhandlung mitgeteilt, die Kammer sei bekanntlich der Auffassung, dass zur Wahrung der jeweiligen Unterbrechungsfristen eine Verhandlung über die Verhandlungsfähigkeit ausreiche. Zugleich sehe man aber auch, dass eine solche Behandlung des Verfahrens nicht unbegrenzt möglich sei. Diese Äußerung macht unmissverständlich deutlich, dass die Kammer sich der rechtlichen Angreifbarkeit auch ihres bisherigen Vorgehens durchaus bewusst ist. Andererseits wissen die abgelehnten Richter, dass eine Überprüfung und Korrektur nur in einem voraussichtlich erst nach Ablauf weiterer Jahre erfolgenden Revisionsverfahren möglich sein wird.

Die sich hieraus ergebende Zumutung (sich nach bereits sechseinhalb Jahren weitere Jahre lang einem absehbar nicht mehr zu rettenden Verfahren stellen zu müssen, das dann gegebenenfalls von Neuem beginnen würde) verschärfen die abgelehnten Richter für Herrn A. damit insofern, als sie – wie ebenfalls in der heutigen Hauptverhandlung durch den Vorsitzenden erklärt – beabsichtigen, die beiden heute getrennten Verfahren im Falle einer Genesung des Angeklagten W. in nicht allzu ferner Zukunft wieder zu verbinden.

Die in der Hauptverhandlung durch den abgelehnten Vorsitzenden bekundete Absicht, mit der Abtrennung eine für die weiteren Verfahrensbeteiligten (gemeint waren offenbar die anderen Angeklagten, insbesondere der jeweils aus Thailand anreisende Herr A., sowie die jeweiligen Zeugen, namentlich gegenwärtig die Zeugin P.) sich ergebende Zumutung zu beseitigen, verkehrt sich auf diese Weise in ihr Gegenteil. Die heute durchgeführte und für morgen geplante Vernehmung der Zeugin P., die weiter für den 14. Juni 2016 geplante Vernehmung des sicherlich nicht unwichtigen Zeugen B. sowie jedwede weitere Beweisaufnahme würde im Falle einer Wiederverbindung (sollte eine solche überhaupt rechtsfehlerfrei durchführbar sein) wiederholt werden müssen. Die Belastung für Mitangeklagte und Zeugen verdoppelt sich also noch.

Damit lassen die abgelehnten Richter auch aus Sicht eines verständigen An­geklagten erkennen, dass sie eine Fortführung des Verfahrens um jeden Preis anstreben. Bereits die fortgesetzte Nichtbeachtung der angesprochenen gesetz­lichen Regelungen für die möglicher Dauer einer Unterbrechung der Hauptverhandlung ist – jedenfalls nach den bereits eingetretenen Zeitabläufen – völlig abwegig (vgl. Meyer-Goßner/Schmidt, StPO, § 24 Rn. 14 m. w. Nachw.). Nun hat sich der heutige Wiedereintritt in die Beweisaufnahme mit einer wie geschildert noch einmal gesteigerten Zumutung verbunden. Diese Behandlung des Verfahrens ist unhaltbar und kann nicht erst nach Jahren auf die Revision des Herrn A. korrigiert werden. Herr A. hat mit dem heutigen Tag jeglichen Rest an Zutrauen in die Unvoreingenommenheit der abgelehnten Richter ver­loren.

Die Vertreterkammer hat dieses Ablehnungsgesuch zurückgewiesen. Zur Begründung wurde ausgeführt, dass zum einen der abgelehnte Vorsitzende eine mögliche Wiederverbindung in den Bereich „reiner Spekulation“ verwiesen habe. Zum anderen sei die höchstrichterliche Behandlung des im Verfahren erfolgten Umgangs mit den Unterbrechungsfristen noch offen und die Handlungsweise der Kammer damit nicht willkürlich oder abwegig.

Genau dies ist aber nach Überzeugung der Verteidigung der Fall. In seiner Stellungnahme zur dienstlichen Erklärung des abgelehnten Vorsitzenden hatte Rechtsanwalt Dr. Molkentin u.a. Folgendes ausgeführt:

Die seitens des abgelehnten Vorsitzenden in seiner dienstlichen Erklärung erneut (unter Hinweis auf die Entscheidung des 4. Strafsenats des BGH vom 16. Januar 2014) bekräftigte Rechtsauffassung, es reiche aus, immer wieder über die Frage der Verhandlungsfähigkeit bzw. einer Eigenmächtigkeit der Abwesenheit eines der Angeklagten zu verhandeln, dürfte im Revisionsverfahren erwartbar keine Bestätigung finden.

Die folgende Kommentierung im Karlsruher Kommentar (§ 229 StPO Rn. 6) konnte zwar noch nicht die Entscheidung aus dem Jahr 2014 berücksichtigen. Es sollte aber deutlich werden, dass diese mit einem einmaligen Ereignis in einem Hauptverhandlungstermin befasste Entscheidung zumindest vor dem Hintergrund der Zeitabläufe und Konstellationen im vorliegenden Verfahren kaum das letzte Wort sein dürfte (vgl. auch Meyer-Goßner § 229 Rn. 11, wo in den Folgeauflagen trotz Nachweises der Entscheidung aus 2014 weiter unten im Text die kritische Kommentierung stehengelassen wurde):

„Als für die Annahme einer Verhandlung zur Sache ausreichend ist dagegen bisher angesehen worden die Verhandlung zur Verhandlungsfähigkeit des Angeklagten (BGHR StPO § 229 Abs. 1 Sachverhandlung 1; OLG Düsseldorf NStZ-RR 1997, 81, 82 = StV 1997, 282; aA LG Düsseldorf StV 1997, 284, 285 für den Fall, dass die Verhandlungsfähigkeit nicht festgestellt werden kann; vgl zu beiden Beschlüssen Zieschang StV 1997, 286; offen gelassen BGH NJW 2006, 3077; Becker LR Rn 11; Deiters SK StPO Rn 4; zw Eschelbach KMR Rn 32 und Meyer-Goßner Rn 11). Ausgehend von den Abgrenzungskriterien zur „substanziellen Verfahrensförderung“ in der neueren Rechtsprechung des 3. Strafsenats des BGH (BGH NStZ 2008, 115; BGH NStZ 2011, 532; BGH NStZ 2012, 343) schafft die Feststellung der Verhandlungsfähigkeit jedoch erst die notwendigen Voraussetzungen, damit an diesem Termin die Verhandlung überhaupt fortgesetzt werden kann; eine eigenständige Bedeutung für die Urteilsfindung wird man demnach verneinen müssen (BGH NStZ 2008, 115 am Beispiel der Pflichtverteidigerbestellung).“

Die Verteidigung ist überzeugt, dass selbst die von ihr kritisch gesehene, bislang vereinzelt gebliebene Entscheidung des BGH aus dem Jahr 2014 sich nicht auf das SMS-Verfahren mit (zunächst sechs, dann) drei Angeklagten und einer fast fünfmonatigen Unterbrechung der Beweisaufnahme übertragen lassen wird.

Wenn erst der BGH dem Verfahren nach Abschluss der ersten Instanz das verdiente Ende bereiten kann, werden weitere hunderttausende Euro ausgegeben und die Angeklagten weitere Jahre lang an einer ungestörten Berufsausübung gehindert worden sein.

Die Verteidigung hat – unbeschadet ihrer Kritik an den sachlichen Grundannahmen des Verfahrens und ihrer auf diese Kritik gestützten Freispruch-Verteidigung – die Hoffnung noch nicht völlig aufgegeben, dass die Schleswig-Holsteinische Justiz es am Ende darauf doch nicht ankommen lassen wird.